Dienstag, 10. Februar 2009

Wie überlebt ein Kind ein Inferno?

Ella Fonjakova
Das Brot jener Jahre - Ein Kind erlebt die Leningrader Blockade
Aus dem Russischen von Sophia Klöpzig, Einführung und historischer Überblick von Heidelore Kluge, 216 S., geb., ISBN 3-932386-31-0, EUR 19,80 (D), 20,50 (A), sFr 35,70
»Dieses Bekenntnisbuch zu lesen, würgt den deutschen Leser immer noch in der Kehle.« Rupert Neudeck
Wie übersteht ein Kind die Tragödie der 900 Tage andauernden Leningrader Blockade? Die Jahre 1941/1942 waren für Leningrad die schwersten und tragischsten seit Menschengedenken. Woran liegt es, dass es so wenig bekannte und allgemein zugängliche Literatur über die Ereignisse der Leningrader Blockade gibt? Warum ist dieser Begriff kaum einem Menschen im Westen geläufig? Während der 900 Tage andauernden Belagerung, vor allem im Winter 1941/42, starben in Leningrad mehr Menschen als je zuvor in einer modernen Stadt. Schätzungsweise waren es mehr als zehnmal so viel wie nach dem Atombombenabwurf über Hiroshima. Eine allgemein zugängliche Schilderung der Ereignisse fehlt. Deshalb sind die Kindheitserinnerungen Ella Fonjakovas auch von großer historischer Bedeutung!
Hier berichtet eine Betroffene, wie sie die Belagerung erfahren hat. Am 9. September 1941 befiehlt Marschall Woroschilow im Auftrag Stalins: »Das rote Leningrad muss sich bis zum Letzten verteidigen und seine Kriegsindustrie in Gang halten.« In der zweiten Septemberwoche 1941 bewegt sich die Heeresgruppe Nord auf Leningrad zu, um der Stadt den »Todesstoß« zu versetzten. Im Oktober beginnt der große Hunger. Die Versorgungslage ist dramatisch. Die Menschen sterben im Schlaf und auf offener Straße, ihre Leichen blieben tagelang liegen, so wie die Körper zu Boden gestürzt waren. Währenddessen wird Leningrad pausenlos bombardiert. Konnte der Hunger noch schlimmer werden? Ja. Die Leningrader reißen Tapeten von den Wänden und kratzen den angetrockneten, aus Kartoffelmehl hergestellten Kleister davon ab. Sie kochen Gürtel und Taschen aus Leder aus, um die eiweißreichen, tierischen Nährstoffe daraus zu gewinnen. Ende November 1941 sind bereits mehr als 11.000 an den Folgen des Hungers gestorben. Die Rationen betragen nur noch zwischen 125 g und 300 g pro Tag, und die Temperaturen sanken auf minus 20 Grad. Allein im Dezember 1941 starben 53.000 Menschen. Was das tägliche Brot vor allem im ersten Blockadewinter bedeutete, erfährt der Leser hautnah, aber auch dies: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein! Dimitri Schostakowitsch komponierte für die Eingeschlossenen seine große Siebte – die »Leningrader Symphonie«. Auch das war Brot.

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