Küssen auf russisch. Ein Alphabet
Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner; mit 26 Tuschezeichnungen von Janina Kuschtewskaja, Grupello Verlag 2007, 168 S., 22,90 EUR, ISBN: 978-3-89978-077-2
"Die russischen Wörter pozeluj, der Kuß, und zelowat, küssen, haben eine gemeinsame Wurzel: zelyj. Zelyj bedeutet »ganz, vollständig, heil, unversehrt« und ist auch in den Wörtern zelebnyj, heilsam, und iszeljat, heilen, enthalten. Den Kuß als Vorgang und Begriff verband man bei den slawischen Völkern stets mit der Vorstellung von einer heilen und einigen Welt, einer Welt des Wohlergehens, der Gesundheit, der Harmonie und der Geborgenheit ... " (Aus dem Vorwort)
Die Dichterin Marina Zwetajewa schreibt: "Die Stirne küssen heißt die Sorgen wegwischen. / Ich küsse die Stirn. / Die Augen küssen heißt die Unruhe nehmen. / Ich küsse die Augen. / Die Lippen küssen heißt mit Wasser erquicken. / Ich küsse die Lippen. / Die Schläfe küssen heißt die Erinnerung löschen. / Ich küsse die Schläfe."
Die Dichterin Marina Zwetajewa schreibt: "Die Stirne küssen heißt die Sorgen wegwischen. / Ich küsse die Stirn. / Die Augen küssen heißt die Unruhe nehmen. / Ich küsse die Augen. / Die Lippen küssen heißt mit Wasser erquicken. / Ich küsse die Lippen. / Die Schläfe küssen heißt die Erinnerung löschen. / Ich küsse die Schläfe."
Wie küßt man in Rußland? Eines steht fest: Dort küßt man viel, und man küßt leidenschaftlich. Tatjana Kuschtewskaja hat ein kurzweiliges Buch über die Vielfalt des russischen Kusses verfaßt. In der Form eines »Kuß-Alphabets« breitet sie eine Fülle von Küssen vor dem Leser aus. Den roten Faden bilden die fiktiven Küsse der großen russischen Schriftsteller, nicht zu vergessen die der Dichterinnen. Anna Achmatowa läßt sich im Gedicht einen Handkuß geben: »Wie schlichter Höflichkeit zuliebe, / Bald spitzbübisch, bald nonchalant / Mir zulächelnd, kam er herüber / Und küßte flüchtig meine Hand ...« Während Dostojewskij mit Küssen geizte und Gogol sich vor Frauen wie vor Küssen geradezu fürchtete, versinken die Figuren im Werk des Nobelpreisträgers Bunin in den »dunklen Alleen« der Leidenschaft. Tschechow ist auch im wirklichen Leben trunken von Küssen. Einen Brief an Lika Misinowa beschließt er mit den Worten: »Mit knechtseliger Ergebenheit küsse ich Ihr Puderdöschen und neide Ihren alten Stiefeln die Freude, Sie jeden Tag zu sehen.« Aber das Buch bietet mehr als eine Sammlung literarischer Küsse; es ist eine kleine Kulturgeschichte der russischen Kußbräuche. Will man eine eidesstattliche Versicherung ablegen, so küßt man das Kreuz. Als Student wiederum ist man vielleicht eher geneigt, die Ikone mit dem Namen »Vermehrung des Verstandes« in einer Moskauer Kirche zu küssen. Und berühmt-berüchtigt sind die staatlichen »Lippenbekenntnisse«, allen voran der legendäre sozialistische Bruderkuß, den Honecker und Breschnew einst vollzogen. Als Michail Gorbatschow sich anschickte, diese Zeremonie einige Jahre später zu wiederholen, fiel davon gewissermaßen sogar die Mauer um ... Kurz und gut, wenn es ums Küssen geht, sind die Russen unberechenbar. Nicht genug, daß man dem russischen Volkskalender zufolge am 17. August den »Tag der Himbeerküsse« feiert, an dem so mancher Mann den Verstand verliert und einen Himbeerstrauch statt der Angebeteten umarmt – nein, Tatjana Kuschtewskaja erzählt auch die Geschichte eines Polarfliegers, der nicht davor zurückschreckte, einen Eisbären zu liebkosen ... - Ausführliche Leseprobe
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen