Mehr Meer - Erinnerungspassagen
Literaturverlag Droschl 2009, ca. 350 S., geb., ISBN 9783854207603, 23.- €
Erinnerungen an Kindheit und Jugend, unterwegs in vielen Kulturen.
Eine Kindheit und Jugend in Mitteleuropa, als dieses Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gerade seine politischen und kulturellen Konturen neu eingeschrieben bekam: Ilma Rakusa geht in ihren Erinnerungen dem kleinen Mädchen nach, der Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter, deren Lebensstationen von einer slowakischen Kleinstadt über Budapest, Ljubljana, Triest nach Zürich – und von da weiter ausgreifend nach Ost und West, nach Leningrad/Petersburg und Paris reichen.
Die überall Fremde, Nicht-ganz-Zugehörige findet sehr früh schon ihre Heimat in der Musik, im Klavierspielen, und, mit der Entdeckung Dostojewskijs, in der Literatur, aber auch in der Bewegung, im Unterwegssein, im Reisen. Mehr Meer geht weit über eine Nacherzählung einer Kindheit und Jugend hinaus; es ist die Beschwörung dessen, was von den vielen Lebensorten und Begegnungen bleibt: Töne und Klänge, Farben und Stimmungen, einzelne Szenen und Blitzlichter (»Die Bilder, sage ich, in Ehren. Aber zuerst kommen die Gerüche.«). In vielen kleinen Selbstbefragungen, in Dialogen, Gedichten und Erinnerungsbildern geht Ilma Rakusa ihrer Geschichte auf den Grund: der vom Vater initiierte ständige Ortswechsel, das Paradies des Meeres und der Küste in Triest und Grado, erste Küsse, erste Reisen, die Musik und die Begegnung mit den Ritualen der Ostkirche, die ersten Auslandsjahre in Paris und im damals noch sowjetischen Leningrad.
Ilma Rakusa nähert sich ihren frühen Jahren äußerst unsentimental und auch nicht mit dem Eifer der Bekennerin, dafür mit großer Genauigkeit in einem sehr schwierigen Bereich: im Atmosphärischen, das sie mit Knappheit und Präzision erdet. In ihrem Erinnerungsband erstehen die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im prismatischen Blick einer außergewöhnlichen Schriftstellerin, die wie wenige in und zwischen verschiedenen Kulturen lebt.
Textauszug: " ... Auch heute noch beuge ich mich mit derselben Faszination über Atlanten, Straßenkarten, Stadtpläne. Aus den grünen Schraffuren der Pripjetsümpfe, den blauen Bändern von Dnjestr und Bug ersteht mir eine Landschaft vor der Landschaft, mit eigenen Koordinaten, Formen, Farben. Gehörtes klingt mythisch hinein (Urheimat der Slaven etc.), und Ortsnamen wie Halytsch, Brody oder Drohobycz beginnen zu erzählen, als genügte ihre bloße Nennung. Was ich dann wirklich (wirklich) sehe, ist eine Art Déjà-vu: die Birkenwälder, die struppigen Flussufer, das galizische Hügelland. Farbige Bauernkaten, umgeben von Gemüsegärten und Gänseteichen. Zwiebelkuppelige Kirchen mit angrenzendem Friedhof. Neu sind die Gerüche. Und immer überraschend der Mensch in der Landschaft. Ein solcher Mensch bin ich selbst. Ausgesetzt im Moment der Reise, in diesem stotternden Expresszug Moskau-Czernowitz (Moskwa-Tschernowzy). Ja, ich sitze auf abgewetzten Kunstledersitzen, wische mit einem Papiertaschentuch den tagealten Staub von der Rücklehne. Der Zug ruckelt, bleibt stehen, kommt wieder in Fahrt. Tee wird angeboten (nicht aus dem Samowar), die Fenster sind schmutztrübe und das WC ein unangenehm zugiger Ort. Draußen zieht die imaginierte Landschaft vorbei. Zeit kommt ins Spiel, sie kippt hin und her, vor und zurück. Dieses Gefühl hat mir der Atlas nicht vermittelt. Diese Zeitreise nicht. Und nicht den ätzenden Geruch nach Kartoffelfeuern.
Die Überraschungen nehmen kein Ende. Angekommen in Czernowitz, ertönt aus den Lautsprechern des prunkvollen kakanischen Bahnhofsgebäudes russische Marschmusik, wie in tiefsten sowjetischen Zeiten. Kulisse und Geist in krassem Widerspruch. Vom Ghetto ganz zu schweigen. Die abschüssigen Straßen schauen leer.
Aufgerissenes Pflaster, das Gehen fällt schwer.
Reisen, das sagt mir mein Atlas nicht, tut weh. Reisen ist eine physische und – wie in Czernowitz – eine seelische Strapaz. Weil die steingewordene Geschichte und die Gegenwart, weil imaginierte Vergangenheit und triste Realität aufeinanderprallen. Dazwischen (dazwischen) klafft nichts ... "
Ilma Rakusa erhielt heute (15.11.) den Schweizer Buchpreis 2009 für dieses Werk
Der Osten ist schön «Mehr Meer» – eine autobiografische Liebeserklärung von Ilma Rakusa Rezension in der NZZ
Erinnerungen an Kindheit und Jugend, unterwegs in vielen Kulturen.
Eine Kindheit und Jugend in Mitteleuropa, als dieses Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gerade seine politischen und kulturellen Konturen neu eingeschrieben bekam: Ilma Rakusa geht in ihren Erinnerungen dem kleinen Mädchen nach, der Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter, deren Lebensstationen von einer slowakischen Kleinstadt über Budapest, Ljubljana, Triest nach Zürich – und von da weiter ausgreifend nach Ost und West, nach Leningrad/Petersburg und Paris reichen.
Die überall Fremde, Nicht-ganz-Zugehörige findet sehr früh schon ihre Heimat in der Musik, im Klavierspielen, und, mit der Entdeckung Dostojewskijs, in der Literatur, aber auch in der Bewegung, im Unterwegssein, im Reisen. Mehr Meer geht weit über eine Nacherzählung einer Kindheit und Jugend hinaus; es ist die Beschwörung dessen, was von den vielen Lebensorten und Begegnungen bleibt: Töne und Klänge, Farben und Stimmungen, einzelne Szenen und Blitzlichter (»Die Bilder, sage ich, in Ehren. Aber zuerst kommen die Gerüche.«). In vielen kleinen Selbstbefragungen, in Dialogen, Gedichten und Erinnerungsbildern geht Ilma Rakusa ihrer Geschichte auf den Grund: der vom Vater initiierte ständige Ortswechsel, das Paradies des Meeres und der Küste in Triest und Grado, erste Küsse, erste Reisen, die Musik und die Begegnung mit den Ritualen der Ostkirche, die ersten Auslandsjahre in Paris und im damals noch sowjetischen Leningrad.
Ilma Rakusa nähert sich ihren frühen Jahren äußerst unsentimental und auch nicht mit dem Eifer der Bekennerin, dafür mit großer Genauigkeit in einem sehr schwierigen Bereich: im Atmosphärischen, das sie mit Knappheit und Präzision erdet. In ihrem Erinnerungsband erstehen die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im prismatischen Blick einer außergewöhnlichen Schriftstellerin, die wie wenige in und zwischen verschiedenen Kulturen lebt.
Textauszug: " ... Auch heute noch beuge ich mich mit derselben Faszination über Atlanten, Straßenkarten, Stadtpläne. Aus den grünen Schraffuren der Pripjetsümpfe, den blauen Bändern von Dnjestr und Bug ersteht mir eine Landschaft vor der Landschaft, mit eigenen Koordinaten, Formen, Farben. Gehörtes klingt mythisch hinein (Urheimat der Slaven etc.), und Ortsnamen wie Halytsch, Brody oder Drohobycz beginnen zu erzählen, als genügte ihre bloße Nennung. Was ich dann wirklich (wirklich) sehe, ist eine Art Déjà-vu: die Birkenwälder, die struppigen Flussufer, das galizische Hügelland. Farbige Bauernkaten, umgeben von Gemüsegärten und Gänseteichen. Zwiebelkuppelige Kirchen mit angrenzendem Friedhof. Neu sind die Gerüche. Und immer überraschend der Mensch in der Landschaft. Ein solcher Mensch bin ich selbst. Ausgesetzt im Moment der Reise, in diesem stotternden Expresszug Moskau-Czernowitz (Moskwa-Tschernowzy). Ja, ich sitze auf abgewetzten Kunstledersitzen, wische mit einem Papiertaschentuch den tagealten Staub von der Rücklehne. Der Zug ruckelt, bleibt stehen, kommt wieder in Fahrt. Tee wird angeboten (nicht aus dem Samowar), die Fenster sind schmutztrübe und das WC ein unangenehm zugiger Ort. Draußen zieht die imaginierte Landschaft vorbei. Zeit kommt ins Spiel, sie kippt hin und her, vor und zurück. Dieses Gefühl hat mir der Atlas nicht vermittelt. Diese Zeitreise nicht. Und nicht den ätzenden Geruch nach Kartoffelfeuern.
Die Überraschungen nehmen kein Ende. Angekommen in Czernowitz, ertönt aus den Lautsprechern des prunkvollen kakanischen Bahnhofsgebäudes russische Marschmusik, wie in tiefsten sowjetischen Zeiten. Kulisse und Geist in krassem Widerspruch. Vom Ghetto ganz zu schweigen. Die abschüssigen Straßen schauen leer.
Aufgerissenes Pflaster, das Gehen fällt schwer.
Reisen, das sagt mir mein Atlas nicht, tut weh. Reisen ist eine physische und – wie in Czernowitz – eine seelische Strapaz. Weil die steingewordene Geschichte und die Gegenwart, weil imaginierte Vergangenheit und triste Realität aufeinanderprallen. Dazwischen (dazwischen) klafft nichts ... "
Ilma Rakusa erhielt heute (15.11.) den Schweizer Buchpreis 2009 für dieses Werk
Der Osten ist schön «Mehr Meer» – eine autobiografische Liebeserklärung von Ilma Rakusa Rezension in der NZZ
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