Freitag, 6. November 2009

Für Geschichts-Begeisterte

Georg Brunold (Hrsg.)

Nichts als die Welt
Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren
Verlag Galiani, Folioformat, geprägtes Leinen, Büttenschlaufe,mit mehrseitigen Fotoreportagen, 684 Seiten, 2 Lesebändchen, ISBN 978-3-86971-001-3, € 85 (D), 137,- sFr, € 87,60 (A)
Quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um die Welt. Tacitus sah, wie Nero Rom niederbrennen ließ. Plinius erlebte den Ausbruch des Vesuv, der Pompeji und Herculaneum verschüttete. Walt Whitman war dabei, als Abraham Lincoln erschossen wurde. Georges Simenon traf Hitler im Fahrstuhl, und Ernest Hemingway marschierte ins von den Deutschen besetzte Paris ein.
Georg Brunold hat in Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren 154 Autoren versammelt, die von den großen und bedeutenden Umbrüchen der Menschheitsgeschichte erzählen, die aber auch in den alltäglichen Details das Seltsame und Besondere finden. Ein »Eidechs in den Apenninen« etwa erregt die Aufmerksamkeit von Heinrich Heine, die Sitten der ägypter machen Herodot staunen. Machiavelli findet, dass Deutsche nicht reich sein müssen, und Caesar überlistet die Helvetier.
Der Leser schaut den großen Autoren der Weltliteratur über die Schulter, lässt sich mitnehmen auf eine literarische Reise durch die Zeit und mehrmals um die Welt. Wir reisen mit den Berichterstattern zu Schiff - mit Kolumbus an Bord der Santa Maria oder mit dem Ehepaar Bishop im Rettungsboot der Titanic -, gehen barfuß nach Canossa, fahren im Zug nach Odessa, verteidigen die Bastille, sehen die Mauer fallen. Wir sitzen mit in den Gerichtssälen, wo Fitzroy Maclean Zeuge eines stalinistischen Schauprozesses wird und Hannah Arendt den Angeklagten Eichmann beobachtet. Wir besuchen Onkel Ho in Hanoi, den Vorsitzenden Mao, die Krönung Haile Selassies, Ford in Detroit.
Für Nichts als die Welt hat Georg Brunold auch zahlreiche Texte gefunden, die es seltsamerweise bisher auf Deutsch nicht gab: Ibn Khalduns Bericht über seinen Besuch bei Tamerlan, Janet Flanner über Hitlers Stimmbänder, Ian Buruma über Benazir Bhutto, um nur einige zu nennen.
Zwölf von Daniel Schwartz ausgewählte und arrangierte Fotoreportagen aus den letzten zehn Jahren ergänzen die 164 Texte; mit Bildern aus einem Frauenkrankenhaus im Kongo, vom 11. September oder von den ehemaligen Angestellten von Lehman Brothers beim Finanzcrash von 2008. Auch sie sind Glanzstücke der Reportage und erzählen von Themen, die noch die nächsten Jahrzehnte prägen werden.
Georg Brunold hat mit der Arbeit an Nichts als die Welt eine mehrjährige, vieltausendseitige Leseodyssee durch alle Zeiten und Länder hinter sich. Als »die längste Reise meines Lebens« bezeichnet der in aller Welt gereiste ehemalige Redakteur von DU seine Arbeit. In der angehängten »Bibliothek des Reporters« erzählt er in 30 thematischen »Lieferungen« von den Büchern, die ihn bei seiner Arbeit und durch sein Leben begleitet haben.

Leseprobe (Auszug): " ... 1865 - Walt Whitman: Die Ermordung Lincolns
Walt Whitman (1819–1892), Amerikas überragender Lyriker des 19. Jahrhunderts, arbeitete als Drucker, Lehrer, Journalist und Zeitungsherausgeber, war ab 1861 Berichterstatter und Sanitätshelfer im Sezessionskrieg. Persönlich ist er nicht zur Stelle, als Lincoln bei laufender Aufführung im vollbesetzten Ford’s Theater in Washington erschossen wird. Um nichts weniger lebendig ist sein Bericht, der sich auf Augenzeugen stützt.
Das Wetter an jenem Tag, dem 14. April 1865, war offenbar im ganzen Lande angenehm – und auch die moralische Atmosphäre war es – der lange Sturm des Brudermords, so finster, so blutig, so voller Zweifel und Verzweiflung, war endlich vorüber, vertrieben durch den Sonnenaufgang des Siegs unseres Staates, die endgültige Unterwerfung des Sezessionismus – wir wollten es kaum glauben! Lee hatte kapituliert unter dem Apfelbaum von Appomattox. Die anderen Armeen, die Mitläufer der Revolte, folgten bald … Und konnte es denn wirklich sein? Aus dieser ganzen Welt der Leidenschaften und des Schmerzes, des Chaos, des Versagens, der Verzweiflung – erwuchs aus all dem tatsächlich ein fester, klarer Plan, wie ein Strahl aus reinem Licht – von legitimer Herrschaft – von Gott? … Der Tag, wie gesagt, war angenehm. Das frische Frühlingsgrün, die ersten Blumen blühten. (Ich weiß noch, dort wo ich mich damals aufhielt, war der Frühling schon weit fortgeschritten, und der Flieder stand in voller Blüte. Es ist eine jener Launen, die sich an die Dinge heften und ihnen eine Färbung geben, obwohl sie im Grunde gar kein Teil von ihnen sind, daß mich der Anblick und der Duft der Fliederblüten unweigerlich an die große Tragödie jenes Tags erinnern. Immer wieder neu.)
Doch ich darf nicht bei Nebensächlichem verweilen. Die Untat wartet. Die populäre Nachmittagszeitung Washingtons, der kleine »Evening Star«, hatte über die ganze dritte Seite – um Aufmerksamkeit zu heischen, an hundert verschiedenen Stellen zwischen die Anzeigen eingerückt – die Meldung verbreitet: Der Präsident und seine Gattin werden am heutigen Abend im Theater sein ... (Lincoln liebte das Theater. Ich selbst habe ihn dort mehrere Male gesehen. Ich weiß noch, wie seltsam ich es fand, daß Er, in mancher Hinsicht der Hauptdarsteller im größten und stürmischsten Drama, das die Bühne der wahren Geschichte in Jahrhunderten gesehen hat, dort saß, andächtig versunken in das Spiel dieser menschlichen Strohpuppen, wie sie sich mit ihren albernen kleinen Gesten bewegten, ihrer ausländischen Art, ihren gekünstelten Texten.)
Und so war das Theater bis auf den letzten Platz besetzt, viele der Damen in ihren besten und schönsten Kleidern, die Offiziere in Uniform, viele bekannte Bürger, junge Leute, der übliche Glanz der Gaslaternen, der übliche Magnetismus so vieler Menschen, eine fröhliche Stimmung, Parfüm, Musik von Geigen und Flöten – (und über allem und in allem das ungeheure, das unfaßliche Wunder, Sieg, der Sieg unserer Nation, der Triumph der Union – die Luft, die Stimmung, die Sinne tiefer davon erfüllt als von jedem Parfüm.)
Der Präsident kam zeitig und verfolgte zusammen mit seiner Frau das Stück von der großen Staatsloge im zweiten Rang aus, ursprünglich zwei Logen, bei denen man die Wand herausgenommen hatte, üppig in den Nationalfarben geschmückt ... " Leseprobe (pdf)

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