Donnerstag, 17. September 2009

Ein Geschenk für Inselfreunde

Judith Schalansky
Atlas der abgelegenen Inseln - Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde
mare verlag Herbst 2009, 144 S., Halbleinen mit dreiseitigem Farbschnitt, ISBN 978-3-86648-117-6, 34,00 €, 54,90 SFR
"Die Karten geben uns die Möglichkeit, daheim und dicht vor unserem Auge die Dinge zu betrachten, die am weitesten entfernt sind." (Johan Blaeu, 1663, niederländischer Kartograf)
Dass es immer noch Orte gibt, die schwer zu erreichen sind, erscheint uns heute nicht mehr vorstellbar. Judith Schalansky aber hat sie gesammelt: fünfzig entlegene Inseln, die in jeder Hinsicht weit entfernt sind, entfernt vom Festland, von Menschen, von Flughäfen und Reisekatalogen.
Aus historischen Begebenheiten und naturwissenschaftlichen Berichten spinnt Judith Schalansky zu jeder Insel eine Prosaminiatur, absurd-abgründige Geschichten, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag, wenn sie mit wenigen Quadratkilometern im Nirgendwo auskommen muss. Sie handeln von seltenen Tieren und seltsamen Menschen: von gestrandeten Sklaven und einsamen Naturforschern, verirrten Entdeckern und verwirrten Leuchtturmwärtern, meuternden Matrosen und vergessenen Schiffbrüchigen, braven Sträflingen und strafversetzten Beamten, kurzum: von freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons.
Nicht zuletzt fasziniert dieser außergewöhnliche Atlas durch seine aufwendige und besonders schöne Gestaltung: Kunstvoll illustriert und durchgehend in fünf Sonderfarben gedruckt, zeigt er nach Ozeanen geordnet alle Inseln im jeweils identischen Maßstab. Damit entführt uns Judith Schalansky zu fünfzig entlegenen Orten - von Tristan da Cunha bis zum Clipperton-Atoll, von der Weihnachts- bis zur Osterinsel - und beweist, dass die abenteuerlichsten Reisen immer noch im Kopf stattfinden: mit dem Finger auf der Landkarte.
Leseprobe (Auszug): " ... Pazifischer Ozean - Osterinsel (Chile): spanisch Isla da Pascua | rapanui Rapa Nui, auch Te Pit o te Henua [›Nabel der Welt‹] 163,6 km ² | 3791 Einwohner. Kein Wunder, dass Darwin hier nicht hielt. Flora und Fauna sind dürftig, die Pracht der verwunschenen Galapagosinseln mit dem Kanu Wochenreisen entfernt. // Wie hoch die Riesenpalmen wirklich waren, die diese Insel einmal dicht bewuchsen, weiß heute niemand mehr. Aus dem Stamm floss ein Saft, der zu honigsüßem Wein vergor, aus dem Holz ließen sich Flöße bauen und Seile für den Transport der Statuen machen. // Diese halslosen Ungeheuer aus Stein, hohläugige Wesen mit langen Ohren, bevölkern die Küste, haben verwitterte Haut und den Mund verzogen wie ein trotziges Kind; Wächter aus vulkanischem Tuff, das Meer im moosbewachsenen Rücken. An Festtagen schauen sie mit weißen Korallenaugen auf die Palmenwälder. // Die zwölf Sippen der Osterinsel liefern sich einen Wettstreit, bauen immer größere Riesen aus Stein und stürzen nachts heimlich die der anderen um. Sie betreiben Raubbau mit ihrem Flecken Land, bringen auch die letzten Bäume zu Fall, sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen, der Anfang vom Ende: Entweder sterben sie gleich an eingeschleppten Pocken, oder sie werden Sklaven im eigenen Land, Leibeigene der Pächter, die aus ihrer Insel eine riesige Schafsfarm machen. Von Zehntausenden überleben nur 111 Einwohner ... " Weiterlesen (pdf)
Die Autorin: Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign, lebt heute als freie Autorin und Gestalterin in Berlin und lehrt in Potsdam Typografische Grundlagen. 2006 veröffentlichte sie ihr typografisches Kompendium Fraktur mon Amour, das mit mehreren Designpreisen ausgezeichnet wurde. Ihr literarisches Debüt "Blau steht dir nicht" erschien 2008 bei mare, im Herbst 2009 erscheint ihr Atlas der abgelegenen Inseln. Ende 2009 wird sie Stipendiatin der Villa Aurora in Los Angeles sein.
Rezension dradio (Auszug): " ... Um 50 Inseln geht es, sortiert nach den fünf Weltmeeren - dem Arktischen, Antarktischen, Indischen, Pazifischen und Atlantischen Ozean. Manche liegen so fernab von all dem, was wir uns als Zivilisation zurechterobert haben, dass sie aus dem tradierten Weltgeschehen verschwunden sind ... Jeder Insel sind zwei Seiten gewidmet. Die Karten-Seite rechts ... oben der Name, Längen- und Breitengrad, Größe und Einwohnerzahl, Skalen mit Entfernungen zu den nächsten größeren Orten und historischen Daten, eine kleine Erdkugel mit Markierungspunkt ... Auf den restlichen zwei Dritteln der linken Seite steht, was Judith Schalansky mit der Insel assoziiert ... St. Helena bekommt kurze Fetzen Gedankenprosa des Kaisers Napoleon und Momentaufnahmen von der Heimholung seines Leichnams ... Die Isla Robinsón Crusoe wurde direkt literarisch getauft, und die vertrackten Beziehungen der Kunstfigur von Daniel Defoe, des gestrandeten Seeräubers Selkirk und zweier echter Pazifik-Inseln untereinander sind eine herrliche Ironie der - ja, was? Geschichte? Kunst? Bei Robert Louis Stevenson ist die Sache übersichtlicher, er soll durch eine Karte zur "Schatzinsel" inspiriert worden sein ... " Zur Rezension

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